Kindertransporte

Die Rettung von Schülerinnen und Schülern der Jawne mit Kindertransporten nach England

Etwa 130 Schülerinnen und Schüler der Jawne konnten während des Jahres 1939 das nationalsozialistische Deutschland verlassen und nach Großbritannien ausreisen. Angestoßen und organisiert wurde die Aktion durch den Schulleiter Dr. Erich Klibansky.

Die Rettung der Schüler:innen vor der fast sicheren Deportation und Ermordung war Teil der sogenannten Kindertransporte – einer beispiellosen Rettungsaktion mit der mehr als zehntausend zumeist jüdische Kinder und Jugendliche ins europäische Ausland gelangten. Nach den heftigen Angriffen auf die jüdische Bevölkerung, die sich um den 9. und 10. November 1938 (Pogromnacht) im gesamten Deutschen Reich ereignet hatten, gestattete die britische Regierung die Einreise von Kindern und Jugendlichen, die nach den Nürnberger Rassegesetzen von den Nationalsozialisten ausgegrenzt und verfolgt wurden.

Der größte Teil der jungen Flüchtlinge gelangte nach Großbritannien, aber auch in anderen Ländern gab es Aufnahmeprogramme für jüdische Kinder aus dem Deutschen Reich, zum Beispiel in Belgien, den Niederlanden oder in Schweden.

Fast alle der mit den Kindertransporten geretteten Kinder und Jugendlichen haben ihre Eltern und andere Teile ihrer Familie in den Konzentrations- und Vernichtungslagern der Nazis verloren.

Karla Yaron, eine der geretteten Schülerinnen der Jawne, berichtet in diesem Video-Clip (9:50 Minuten) über ihre Erinnerungen an den Kindertransport und die Zeit in England.

Der Clip ist Teil eines umfangreichen Interviewprojektes des Lern- und Gedenkorts Jawne. Das gesamte Interview lässt sich unter www.leftovers.eu anschauen.

Gewalt und Terror im Oktober / November 1938

Von den Ereignissen der Pogromnacht und des darauf folgenden Tages wurde auch das jüdische Zentrum an der St.-Apern-Straße 29-31 nicht verschont.

Bereits in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 hatten sich Gestapobeamte Zutritt zum Schulgebäude und der Synagoge verschafft, fast alle Akten der Schule sowie das vorhandene Geld und sogar die Thorarollen beschlagnahmt. Am Donnerstagmorgen, den 10. November 1938, erschienen Leute mit Werkzeugen und begannen die Einrichtung der Synagoge und des Schulgebäudes zu zerstören. Die Lehrer Salli Kanthal und Dr. Julius Simons wurden verhaftet und in das Konzentrationslager Dachau verbracht. Das Betreten der Synagoge und des Schulgeländes war zunächst verboten; der Unterricht konnte erst etwa zwei Wochen später wieder beginnen.

Dem voraus gegangen war nur wenige Tage zuvor die sogenannte „Polenaktion“ – die gewaltsame Massenabschiebung von polnischstämmigen Jüdinnen und Juden am 28./29. Oktober 1938 aus dem Deutschen Reich nach Polen, die auch zahlreiche Familien von Jawne-Schüler:innen betraf.

Unmittelbar nach den Schrecken dieser Ereignisse plante Direktor Klibansky die Verlegung der gesamten Schule nach England. Noch im November verfasste Klibansky ein Rundschreiben an die Eltern, dem eine Verpflichtungserklärung beilag mit der die Eltern ihre Kinder für diese Aktion anmelden konnten.
Dass bereits am 8. Dezember die Eltern von 295 Kindern die Erklärung unterschrieben an die Schule zurückgegeben hatten und bereit waren sich trotz aller Unklarheiten von ihren Kindern zu trennen, macht deutlich wie groß die Verzweiflung dieser Tage gewesen sein muss.
Noch während der Weihnachtsferien 1938 reiste Klibansky nach England um dort die Möglichkeiten des Jawne-Umzuges auszuloten.

Die Jawne-Hostels in England

Bereits am 17. Januar 1939 reiste eine erste Gruppe von etwa 30 Jungen der Unterstufe von Köln nach London und bezog das Haus Minster Road Nr. 1 im Londoner Stadtteil Cricklewood.
Begleitet wurde diese erste Gruppe von dem Bonner Rabbiner Dr. Rudolf Seligsohn, dessen Frau Gerda einen Monat später folgte. Das Ehepaar Seligsohn übernahm die Leitung dieses ersten „Jawne-Hostels“.

Jungen aus Köln vor dem Jawne-Hostel Minster Road Nr. 1. Zweiter v. links: Alexander Dominitz, dritter v. links: Samuel Königshöfer, später Shmuel Hatsor. (Foto: Privatarchiv Shmuel Hatsor)

Im Februar 1939 reisten 15 Mädchen und Jungen nach London; die Mädchen wurden in einem Hostel in der Willesden Lane 243 aufgenommen, die Jungen vermutlich im nahegelegenen Hostel Minster Road Nr. 1.
Gelegentlich stießen auch einzelne Kinder zu unterschiedlichen Zeiten zu den Gruppen hinzu, d.h. nicht alle der an den Transporten teilnehmenden Kinder und Jugendlichen reisten immer gemeinsam bzw. als Klassenverband.

Der dritte Transport startete am 9. Mai 1939 in Köln mit sämtlichen Jungen der beiden Oberklassen und zehn Sextanern. Dr. Klibansky begleitete diesen Transport persönlich nach Liverpool. Die Sextaner wurden nach Brighton weitergeleitet, während die übrigen Jungen noch vier Wochen in einem Ferienheim der Liverpooler Synagogengemeinde verbringen mussten, weil das vorgesehene Hostel in der Linnet Lane Nr. 19 noch nicht fertiggestellt war und auch die aus Deutschland verschifften Möbel noch nicht eingetroffen waren.
Als im Juli der stellvertretende Leiter der Jawne, Dr. Moritz Samuel, seine Schwester Fanny und die Lehrerin Else Nußbaum endlich eintrafen und die Leitung des Liverpoooler Hostels übernahmen, reiste Erich Klibansky zurück nach Köln.

Im Juni und Juli 1939 reiste eine Gruppe von etwa 25 Mädchen – die letzte der vier Jawne-Gruppen – nach Manchester und bezog ein Hostel am Waterloo Road 391, das von dem Ehepaar Kahn aus Altona geleitet wurde.1

Schülerinnen der Jawne und das Ehepaar Kahn vor dem Hostel Waterloo Road 391 in Manchester (Foto: Privatarchiv Karla Yaron)

Die meisten der mit den Kindertransporten geretteten Schüler:innen der Jawne hatten das Glück zunächst als Gruppe in einem der „Hostels“ zusammen sein zu können. In ihren Berichten beschreiben sie dies häufig als Quelle der Kraft um die Trennung von den Eltern und den Verlust der familiären Wärme zu bewältigen und als Basis oft lebenslanger Freundschaften.

Margot Munk erinnert sich in diesem Video-Clip (5:15 Minuten) an das Leben im Jawne-Hostel Waterloo Road 391 in Manchester.

Das gesamte Interview mit Margot Munk lässt sich unter www.leftovers.eu anschauen.

Die Kindertransporte und die mit dem Rettungswerk Erich Klibanskys verbundenen Dinge sind zentraler Gegenstand der Forschungen, Ausstellungsprojekte und pädagogischen Arbeit des Lern- und Gedenkorts Jawne.

Ohne das Vertrauen der überlebenden Schüler:innen und die Bereitschaft ihre Erinnerungen, Informationen und persönlichen Dokumente mit uns zu teilen, ließe sich die Geschichte der Jawne und der Kindertransporte nicht erzählen. Dafür sind wir sehr dankbar!

Online-Projekte des Lern- und Gedenkorts Jawne zu den Kindertransporten

Eine Projektgruppe des Lern- und Gedenkorts Jawne hat in den vergangenen Jahren intensiv zu den Kindertransporten recherchiert, zahlreiche Zeitzeug:innen getroffen und unterschiedlichste Quellen und Dokumente ausgewertet. Im Mittelpunkt der von der Projektgruppe im Jahr 2010 erarbeiteten Online-Ausstellung Kindertransporte aus NRW stehen die Lebensgeschichten von Zeitzeug:innen, die mit einem Kindertransport aus dem Rheinland oder aus Westfalen gerettet wurden und in Großbritannien leben. Die 2013 in Köln gezeigte große Ausstellung Kinder Abreisen 17 Uhr 13 – Erinnerungen an Kindertransport und Polenaktion 1938 / 39 ist inzwischen ebenfalls online verfügbar und liefert umfassende Informationen zur Kinder- und Jugendrettung sowie zur Massenabschiebung polnischstämmiger Jüdinnen und Juden aus dem Deutschen Reich im Oktober 1938 –  einem bis heute in der deutschen Öffentlichkeit weitgehend unbekannten Thema.

Weiterführende Informationen

  • 2018 entstand die TV-Dokumentation (ZDF) “Rettung der Zehntausend – Die Kindertransporte”, in der auch der ehemalige Jawne-Schüler Ernest Kolman zu Wort kommt.
    Link zum Video (youtube.com)
  • Claudia Curio: Verfolgung, Flucht, Rettung – Die Kindertransporte 1938/39 nach Großbritannien (Dissertation am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin, Metropol Verlag, 2006)

1 Sämtliche Angaben zu den von Erich Klibansky organisierten Kindertransporten aus: Die Jawne zu Köln – Zur Geschichte des ersten jüdischen Gymnasiums im Rheinland und zum Gedächtnis an Erich Klibansky (Dieter Corbach, Scriba Verlag, 1990)